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Wolfgang Herrndorf, Sand (1): Die Sache mit dem Flaschenzug

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Doch ein loses Ende in Sand, ein wortwörtliches gar?

Die Sequenz im Buch

In Kapitel 16 erwacht einer ohne Gedächtnis und mit einer Kopfverletzung in unvertrauter Umgebung – einem Dachboden, oben in einer Scheune. Im Boden eine große Öffnung, darüber ist ein Flaschenzug befestigt. Die Figur, ab jetzt unsere Hauptperson, ist bekleidet mit einer Dschellaba, einem in Marokko verbreiteten Kapuzenmantel; darunter ein Anzug. Auf dem Rücken ein hölzernes Spielzeug-Automatikgewehr. Nichts von all dem sagt ihr etwas. Unsere Figur muss nach unten, durch die Öffnung, aber der Flaschenzug ist nicht sehr einladend, die ölige Kette eignet sich nicht zum Herunterklettern. Springen kann man auch nicht, zu tief.

Es gibt ein Fenster, draußen ist Wüste. Der Flaschenzug entgleitet unserer Figur und rauscht komplett nach unten. Im hinteren Teil des Dachbodens, hinter einem Tisch, findet sich eine Leiter. Die reicht aber nicht ganz bis zum Boden. Das heißt, was schon möglich ist: Unsere Figur lässt die Leiter nach unten gleiten, bis sie am Boden ist, hält sie gerade noch mit den Füßen und sich oben mit den Händen fest. Dann ruckelt und wackelt sich die Person balancierend nach unten: Geschafft.

Die Ähnlichkeit zum Textadventure

Diese Szene sprach zu mir. Ein Held mit Gedächntisverlust ist ein Klischee, aber für mich war das noch ein ganz besonderes Klischee: So, genau so wie dieses Kapitel, fangen viele Textadventures (“Interactive Fiction”) an. Auch da ist der Gedächtnisverlust am Anfang ein belächeltes Klischee, erwächst hier aber aus der Spielsituation selber: Man fängt oft in medias res an und weiß über die Spielfigur (avatar), vom Spielenden (player) mit Kommandos gesteuert, häufig erst einmal gar nichts. Man erfährt das alles erst durch die Antworten des Erzählers (parser). Deshalb ist auch ein üblicher erster Spielzug “examine me” oder “look at me”, um sich (player) ein Bild von sich (avatar) zu machen, gefolgt von “inventory”, um zu sehen, was man (avatar) bei sich trägt. Ganz häufig hat man eine Brieftasche bei sich und darin einen Ausweis: dort erfährt man (player) endlich, wer man (avatar) ist. Das heißt, ohne Gedächtnisverlust weiß das der Avatar ja schon, aber der Player halt nicht. Es gibt auch ein bekanntes kleines Spiel, das genau mit diesem Topos arbeitet: Aufwachen am Morgen, Blick in die Brieftasche – nur stellt sich da am Ende heraus, dass der Avatar, aus Gründen, einen fremden Ausweis bei sich hat, und dass der Avatar gar nicht die Figur ist, für die sie der Player gehalten hat.

Auch die Figur in Sand hat eine Brieftasche bei sich, denkt aber erst später, zu spät, daran, sie nach einem Ausweis zu durchsuchen. Das ist ein Luxus, den man sich im Computerspiel nicht leisten kann: Selbst wenn man beim ersten Spielen vergisst, nach einem Ausweis zu suchen und ihn zu lesen, kann man beim nächsten Durchgang sehr wohl daran denken. Das birgt auch Möglichkeiten. Im Roman muss die Figur überlegen, dass ein Sprung vom Dachboden aufgrund der Höhe vermutlich tödlich enden wird, und diesen Sprung unterlassen. Ganz üblich für ein Spiel ist aber, dass man als Player alles ausprobieren kann: Springen, an der Kette herunterklettern, das Fenster einschlagen, um Hilfe rufen. Wenn man stirbt, versucht man beim nächsten Mal etwas anderes.

Sehr häufig ist es auch so, dass man sich am Anfang eines solchen Spiels erst einmal in einem räumlich begrenzten Bereich befindet, nur einen oder zwei Räume groß, und dass man erst einmal ein kleines Rätsel lösen muss, um sich aus diesem Bereich zu befreien. Erst daraufhin stehen einem dann größere Teile der Spielwelt zur Verfügung. Woher diese Tradition kommt, weiß ich nicht, ich kann mir aber vorstellen, dass das eine Art Tutorial ist – erst mal die Optionen reduzieren und ein klar definiertes, eindeutiges Rätsel lösen, bis man sich in das Spiel eingefunden hat. Das haben wir auch hier: Nach unten kommen, aber wie – Leiter, Flaschenzug, Kette, Fenster? Dazu: Wenige Objekte, die physische Manipulation von Objekten, und keine anderen Menschen, weil die so schwierig zu programmieren sind, all das ist typisch für solche Spiele.

Die Szene als Spiel, und die Sache mit dem Flaschenzug

Jedenfalls… habe ich diese Szene aus Sand als Spiel nachprogrammiert. Es ist aber wirklich nur der Anfang, und auf Englisch, weil das schneller zu programmieren geht. Allein dafür musste ich die Aktionen Schießen, Lesen, Graben und Putzen programmieren, die das Spielsystem bis dahin noch nicht kannte, und einen Flaschenzug programmieren, an den man etwas hängen und den man befestigen und lösen kann, jedenfalls theoretisch.

Ja, der Flaschenzug. Für die Geschichte im Roman ist es wichtig, dass dieser ganze Flaschenzug, mit Kette und allem drum und dran, sich löst und nach unten fällt:

Die Kette löste sich vom Nagel, und der Flaschenzug setzte sich langsam in Bewegung. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, sah er versteinert zu, wie die Apparatur gravitätisch in die Tiefe fuhr und mit einem dumpfen Laut unten aufschlug. Höhnisch rasselnd folgte die Kette, die sich über die obere Rolle abspulte und klirrend aus dem Bild verschwand.

Nun musste ich diesen Flaschenzug für das Spiel mit Worten so beschreiben, dass man ihn sich eindeutig vorstellen kann. Und man muss mit ihm interagieren können – detailliert, wenn er ein wichtiges Spielobjekt ist, ansonsten oberflächlich. Dazu musste ich erst mal selber verstehen, wie dieser Flaschenzug aufgebaut ist – und wie es dazu kommen kann, dass er mitsamt der Kette nach unten rasselt. Denn es gibt viele verschiedene Arten von Flaschenzügen, das sind nur ein paar davon:

WelkinridgeTacklesCC BY-SA 3.0

Dass das auf Englisch „block and tackle“ heißt, wusste ich, aber nicht, was die einzelnen Elemente sind. Ein block ist das untere oder obere Teil, das im einfachsten Fall (gun tackle, ganz links) nur aus einer Rolle („pulley“) besteht. Beim double tackle sind oben und unten jeweils zwei Rollen („pulleys“) montiert, die unabhängig von einander beweglich sind. Beim luff tackle zum Beispiel sind oben zwei Rollen und unten eine, weil das Seil ja oben zweimal herumgeht.

Über den Flaschenzug im Buch erfahren wir: “Vom Flaschenzug lief eine ölige Kette über große Rollen zu einem Stützbalken, wo sie an einem Nagel festgehakt war. Er machte die Kette los, ließ den schweren Flaschenzug ein wenig auf- und abfahren und hakte ihn wieder ein.” Und vor allem das hier: “Es gab zwei Rollen, die Kette lief von oben kommend einmal um die untere Rolle, dann in einer Schlaufe um die obere Rolle.”

Das sieht mir nach dem einfachen gun tackle aus. Das eine Ende der Kette, an dem man zieht, hängt an einem Haken. Und wenn man das vom Haken löst und dann loslässt, saust das bewegliche Rollenteil nach unten und die Kette mit – aber das andere Ende der Kette bleibt weiter oben befestigt. Hm. Reißt der nach unten sausende Teil die Kette oben aus der Befestigung? Allerdings muss die Kette ja lang genug sein, dass das Teil am Boden aufkommt, bevor die Aufhängung belastet wird.

Anders wäre es beim gun tackle, Variante „rove to advantage“ – das heißt, dass man in die Richtung zieht, in die sich die Last bewegen soll, statt andersherum:

Da würde tatsächlich der untere block mitsamt der gesamten Kette nach unten verschwinden. Aber das scheint mir nicht zum beschriebenen Flaschenzug zu passen: Die Kette lief von oben kommend einmal um die untere Rolle, dann in einer Schlaufe um die obere Rolle. das passt zum üblichen gun tackle, “rove to disadvantage”, hier noch einmal in anderer Form dargestellt:

Mindbuilder, Polispasto2B, CC BY-SA 3.0

Heißt: Die Kette hängt fest an der Decke, entweder unmittelbar an ihr oder an dem oberen Rollenkasten, wobei der dann fest an der Decke montiert ist. So oder so sehe ich nicht, wie die ganze Kette nach unten sausen kann. Und jetzt stehe ich da und weiß nicht weiter. Im Moment habe ich das so, dass der bewegliche block nach unten saust und die Kette halt oben abreißt, irgendwie. Sie könnte auch hängen bleiben, um eventuell eine alternative Möglichkeit zu schaffen, nach unten zu gelangen… Programmier- und vor allem Denkarbeit, dabei soll das ja nur ein Prototyp sein.

Wie es weitergehen könnte

Ich habe auch den Rest des Buchs natürlich immer mit einem Auge darauf gelesen, wie man es als interactive fiction umsetzen könnte. Gut machbar. Einige feste Orte, zwischen denen man hin- und herfahren kann (die Oase, das Hotel, die Tankstelle, die Mine – sogar mit Labyrinth), ein paar gescriptete Szenen mit relativ wenig anderen Figuren. Die Interaktion mit Personen ist in einem Spiel immer etwas unrealistisch, das Sprunghaft-Unerklärte, Zustandslos-Wiederholte passt aber gut zur Handlung. Auch für einen Wechsel von Protagonisten oder für Zeitsprünge sind moderne IF-Autorensysteme gut ausgelegt.

Warum sich Interactive Fiction besonders eignet

Die Hauptfigur, Carl, ist desorientiert. Auch andere Figuren sind verwirrt. Das geht bis zu gestörter Wahrnehmung, daher auch die vielen Verhörer oder Verschreiber oder Wortverwechslungen. Heißt es: “Du Arsch, wenn er die Schiene funkentstört!” Oder vielleicht lautet er auch: “Wenn die Lawine eskaliert?” Oder: “Wenn er den Dünenhund entführt?“ Oder: “Wenn er die Mine jetzt zerstört?” Es geht wohl um eine Mine. Oder Miene? Einmal steht “Termiene” auf einem Werbeschreiben – Druckfehler, Verleser, geheimes Signal? . Trinkt Lundgren Minztee, Munztee oder Malztee? Er weiß selbst nicht mehr, was das richtige Wort ist. “Die Wuste brennt” steht da, oder doch “Wüste”?

In Interactive Fiction, mit potentiell dynamischem, sich potentiell veränderndem Text, kann man das nachbauen: Man liest eine Zeitung, da steht “Termiene”, man liest ein zweites dieselbe Zeitung, dann steht “Termine” da. Eine Raumbeschreibung kann sich ändern, obwohl sich nichts offensichtlich in der Welt geändert hat. Das wird in mindestens zwei Spielen genutzt. In einem, Shade von Andrew Plotkin, bricht nach und nach die vertraute Welt um den Avatar zusammen (zur Verwirrung des Spielenden), bis er sich am Ende verdurstend in der Wüste findet statt in seinem eigenen kleinen Zimmer, wo das Spiel begonnen hat und das er eigentlich nie verlässt. In einem anderen Spiel werden ab einem bestimmten Zeitpunkt nach und nach die Objekte der Spielwelt durch ihren Computercode ersetzt, oder jedenfalls wie etwas, das nach interner Programmiersprache aussieht. Das Fantasy-Dungeon wird als Kulisse entlarvt.

Mehr zu Sand

Siehe weiteren Blogeintrag mit mehr Details, Ende der Woche oder so. Es ist ein sehr gutes Buch.


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